Als ich mich entschloss dich zu lieben

„Ich werde dich lieben,
dich lieben bis zum Tod.
Werd dich lieben
bis ans Ende der Welt.
Die Menschen werden sich lieben,
vergessen und lieben,
doch ich werde dich lieben bis zum Tod.

Ich werde dich lieben, ich werde dich lieben,
werd dich lieben weit über den Tod.
Die Menschen werden sich lieben,
vergessen und lieben.
Doch ich werde dich lieben bis zum Tod.
Meine Seele fliegt zu dir weg,
und sie fliegt dir in dein Herz.“

(Rio Reiser)

Wo beginnen?
Zu Anfang fühlte sich alles normal an.
Schon beim großen Kind schoß kein Mutterblitz in mich, ich verliebte mich langsam und leise in mein Kind, tue es eigentlich immer noch, jeden Tag ein bisschen mehr.
Beim Baby war es anders.

Gute zweieinhalb Wochen nach der Geburt fuhr ich ein nasenflügelndes, hoch fieberndes Kind ins Krankenhaus. Der Vater saß auf der Rückbank, beobachtete. Hoffentlich gut genug.
Die Ärzte in der Klinik waren unruhig, suchten.
Während der ersten Untersuchung war ich nicht dabei, saß drei Zimmer weit weg, habe getrunken, gegessen, versucht gegen den Schwindel anzukämpfen. Das Baby hat geweint, 45min lang. Ziemlich lang. Ich versuchte, nichts zu fühlen. Die schlechten Nachrichten sollten nicht bis zu mir durchdringen. Stattdessen Zeitschriften lesen, die Angst mit Kaffee runterspülen.
Das ich es im Stich gelassen habe, werde ich mir nie verzeihen, auch, wenn ich mich in der Situation unfähig fühlte, anders zu entscheiden.

Zum Glück kam mit dem Baby die Entwarnung in den Raum, 10 Tage Antibiose, das sollte helfen.
Tagsüber war ich professionell, habe mein Baby gestillt, gewickelt, gehalten. Auch gehalten, während diverse Assistenzärzte versuchten Zugänge zu legen. Den Arm gestaut. Pflaster angereicht. Gehalten, während Katheter geschoben wurden. Das Antibiotikum gespritzt wurde, was vermutlich gebrannt und gedrückt hat.
Geweint habe ich erst, wenn es dunkel und ruhig wurde.
Jede Nacht.

Vor der ersten OP eine Woche später habe ich mir vorgenommen, das Kind lieber nicht zu sehr zu lieben. Wer weiß.
Mit meinem keinen Monat alten Baby im Arm stand ich dann doch bitterlich schluchzend an der Schleuse, völlig unfähig Fragen nach Namen, Geburtsdatum und geplanter Operation zu beantworten.
Ich blieb allein und verquollen auf der anderen Seite der großen Metalltür, während der Anästhesist mein Baby weg trug. Gern hätte ich mich trösten lassen.
Es blieb nur Laufen, Laufen, Laufen. Mein wundes Herz verbergen.
Weiter Nachts weinen, wenn es niemand sehen konnte. Der Gingerman war nur tagsüber im großen Krankenhaustrubel zu Besuch. Einmal auch das große Kind. Nachdem es wieder gegangen war, musste ich doch mal in aller Helligkeit weinen.

Eine zweite OP folgte acht Wochen später.

Zuhause hatte ich die Mahnungen im Kopf, ich solle immer achtsam sein. Im Falle des Falles direkt wieder in die Klinik fahren.

Das Baby hat viel geweint, für mich schon recht früh zu viel.
Das große Kind hat damals deutlich mehr gebrüllt, ich habe es gehalten, nackt auf mich gelegt, mit geweint.
Beim Baby fühlte ich mich genervt, hatte keine Muße. Stand mit dem brüllendem Kind vorm dunklen Fenster, habe in die Nacht geschaut und war wütend statt mitfühlend.
Immer wieder kam der Gedanke: „Das war ein Fehler. Ein ganz großer Fehler. Ich kann dich nicht lieben, ich hasse dich.“
Zuneigung spürte ich nur bei Wohlverhalten des Babys, sobald es etwas anstrengender wurde, kam meine Wut.
Meine Hoffnung war, dass die Liebe von Vater und Bruder mein mangelndes Gefühl ausgleichen würde.

Mit den Monaten weinte das Baby weniger, ich wurde entspannter. Trotzdem war ich fest davon überzeugt, es niemals so lieben zu können wie das große Kind. Ich spürte eine Barriere zwischen uns. Trotz des Lächelns, Kuschelns, Stillens konnte das Baby nicht bis zu meinem Herzen durchdringen.
Immer noch bereute ich in schwierigen Situationen die Entscheidung für ein zweites Kind.
Zwei Mal versuchte ich mit jemandem darüber zu sprechen. Nur zaghaft, berichtete nicht von der Wucht meiner Gefühle. Trotzdem erhielt ich strafende Blicke und hatte im Nachhinein ein unsagbar schlechtes Gewissen. Zu Recht.
Ich überlegte hin und her, ob ich eine postpartale Depression haben könnte. Entschied mich jedoch dagegen, da es mir außer an der Liebe zum Baby an Nichts fehlte.

Die Kontrolluntersuchungen im Krankenhaus waren derweil okay. Nicht super, aber auch nicht wirklich schlecht.

Die Monate vergingen rasend schnell, plötzlich war das Baby ein halbes Jahr alt und ich hatte immer noch das Gefühl, es wäre mir fremd, gerade erst zu uns gekommen. Ich hatte das erste halbe Jahr irgendwie verpasst.

Eine meiner liebsten Freundinnen kam mit ihrem Baby zu Besuch.
Ich beobachtete etwas neidisch und auch verständnislos ihre Liebe zu ihrem Kind. Vorbehaltlos, klebrig süß, stark.
Mein Baby versorgte ich, liebkoste es und schaute dabei doch eher von Außen zu, statt mich der Wonne zu ergeben.
Schließlich sprach ich das Thema vorsichtig an.
Das ich das große Kind immer mehr lieben würde, mir während des ersten Klinikaufenthaltes die Liebe zum Baby untersagt hätte.
Das so ganz klar auszusprechen tat gut. Erleichterte meine Last etwas.

Am kommenden Tag fiel sinngemäß folgender Ausspruch: „Ihr hattet ja auch bisher keine schöne Babyzeit. Die habt ihr erst jetzt.“

Den Abend darauf lag ich im Bett, neben dem Gingerman, das Baby auf der anderen Matratze. Eine Armlänge entfernt.

Und dann beschloss ich, das Baby zu lieben.
Nahm seine Hand, öffnete mein Herz, ließ Liebe strömen, verband mich mit dem kleinen Menschen. (Nach dem „Rosa Herzensfaden“ von Brigitte Meissner, falls das jemand kennt.)
Ich hielt es neben dem Gingerman nicht mehr aus, rutschte rüber zum Baby, liebkoste und genoß es.
So abgehoben es klingen mag: plötzlich fühlte ich mich ganz und gar durchströmt von Liebe, hatte Schmetterlinge im Bauch.
Und Hoffnung.
Auf eine „normale“ Mutter-Kind-Bindung. Ohne professionelle Hilfe von Außen, welche ein vorheriges Eingestehen meiner Unfähigkeit zur Bedingung hätte.

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, hatte ich obiges Lied von Rio Reiser im Kopf und Liebe im Herzen.
Seitdem knuddeln wir im Bett, ich genieße das Nichts-Tun, beobachte, genieße die brutalen Zärtlichkeiten des kleinen Menschleins.
Meines zweiten Sohnes.
True Story.

„Ich werde dich lieben…“

15 Kommentare Gib deinen ab

  1. katze1810 sagt:

    Was für ein ergreifender Text .

  2. steph sagt:

    … das mit der Wut, wenn das Baby schreit und ich nix machen kann, kenne ich auch. Hat wohl was mit der Ohnmacht zu tun.
    Das schlechte Gewissen, wenn man sich nicht so fühlt wie man ’sollte‘, macht das ganze nicht besser. Gut, dass es bei dir jetzt besser ist. Und gut, dass du diese Geschichte aufgeschrieben hast. Für die anderen. Denen es auch so geht.

  3. Fraki sagt:

    Oh wie schön!! Gut,dass du es so aussprechen kannst.liebe Grüße!

  4. Julia sagt:

    Du bist so schonungslos offen und gerade. Das trifft mich sehr. Hab vielen Dank dafür!

  5. AnnaRockt sagt:

    Wow!! Wunder, wunderschön, ehrlich und tief! Zwischen den vielen ‚Mir scheint konstant die Sonne aus dem Arsch-Texten, eine wirkliche Bereicherung! Danke Dir!

  6. Friederike sagt:

    Wenn doch mehr Mamas den Mut hätten so ehrlich zu sein! Mehr schlaue Worte fallen mir gerade nicht ein, mein Herz ist noch zu voll. Ich bin ergriffen, berührt und glücklich über das vorbehaltlose, klebrig süße, starke Happy End.

    1. Danke.
      Und ja, ich würde auch gern mehr offene Beiträge lesen, wo auch die tiefschwarzen Stunden der Mutterschaft veröffentlicht werden.

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